Im kleinstädtischen Rahmen, wo jeder jeden kannte, spielten früher Traditionen noch eine weit bedeutendere Rolle als heute. So hatten sich in Olten über Jahrhunderte hinweg Bräuche erhalten, die uns heute reichlich seltsam vorkommen müssen. Man stelle sich vor, es würde noch heute jeder Bürger, der es versäumte, seinen Mitbürgern ein gutes neues Jahr anzuwünschen, wie das die Bürgerversammlung des Jahres 1594 beschloss, sein Bürgerrecht verlieren! Weit eher könnten wir uns wohl mit dem Brauch anfreunden, dass Neubürger der Bürgerschaft neben der zu erlegenden Einbürgerungstaxe auch einen Saum Wein zum Vertrinken zu offerieren hätten. Auch, denke ich, hätten wir nichts dagegen einzuwenden jedes Jahr zu einem Essen eingeladen zu werden, bei dem die Lämmer verzehrt würden, welche die Wangner Bauern unserer Stadt als Entgelt für das Weiderecht im Gheid abliefern müssten.

Eine Besonderheit stellten in diesem Zusammenhang auch die Bürgerbecher dar, welche Neubürger zur Feier ihrer Aufnahme ins Oltner Bürgerrecht dem Weibel auzuhändigen hatten. Nicht weniger als 68 Stück dieser zum Teil reichverzierten, silbervergoldeten Becher wurden schon 1577 dem Weibel bei seinem Amtsantritt übergeben!

Als dieser Brauch aus der Mode gekommen war, «versilberte» man, nachdem schon anno 1705 ein grosser Teil der Bürgerbecher zur Finanzierung des neuen Rathauses verkauft worden waren, die letzten dieser Becher anno 1840 zur Finanzierung des ersten städtischen Schulhauses, des heutigen Naturmuseums also, weil sie, wie es heisst, weder antiquarischen noch künstlerischen Wert besässen!

Foto: Urs Klein, Goldschmied, 1670-1737: Bürgerbecher für Johann Gebner 1698 (Historisches Museum Olten)